Seit der Besetzung der Krim und dem Krieg gegen die Ukraine geht der Blick immer weiter zum Osten Europas und Russlands, was wir noch bei den Tschetschenien-Kriegen vermeiden konnten, sie waren „sehr weit weg“. Nun führt uns die Autorin noch weiter weg, in den fernen Osten des russischen Reiches, nach Sibirien, insbesondere nach Wladiwostok und Burjatien. Da sie die Lebensgeschichte ihres deutschen Großvaters erzählt, der sich im Jahr 1898 aus dem Wunsch, der häuslichen Enge zu entkommen und aus Fernweh für eine kaufmännische Tätigkeit in Wladiwostok entschied, lässt sie die Leser*innen teilhaben an dem Erleben der politischen und wirtschaftlichen Verwerfungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und deren Auswirkungen auf die Menschen dieser Gegend. Der Großvater (Pseudonym Josef Naumann) wird in die zaristische Verbannung in den Norden Burjatiens transportiert, der heute autonomen russischen Republik im Osten des Baikalsees. Dort lernt er die Burjat*innen, die in dieser rauen Gegend bestehen können, kennen und als eigensinnige Indigene wertschätzen. Unter ihnen begegnet er seiner Lebensgefährtin, von der die Leser*innen so wie er längst vergessene Tugenden erfahren können: Schutzverhalten gegen extreme Kälte, Familienzusammenhalt, Gruppenzusammenhalt, Religiosität, Weitergabe „alter“ Fertigkeiten in Nahrungsmittelkonservierung und -Zubereitung, Herstellung von Kräutermedizin u.e.m., insbesondere aber Menschlichkeit gegenüber Verbannten. Nicht zuletzt prägt sie das praktische Überleben ihrer Familie (das Paar hat inzwischen zwei Kinder) in Zeiten der Kämpfe zwischen „Weißen“ und „Roten“ während des russischen Bürgerkrieges.
Den Leser*innen wird deutlich: Es ist kein Zufall, dass es heutzutage gerade die Burjatinnen waren, die in Moskau demonstriert haben und die Entlassung ihrer Männer und Söhne aus dem Ukraine-Krieg forderten, in welchen sie als erste geschickt worden waren, weil sie aus einer weit entfernten und wenig vernetzten russischen Republik kommen. Und mindestens den russischen Machthabern mit KGB-Vergangenheit ist bewusst, warum Stalin im Jahr 1937 mehr als 10.000 Burjaten töten ließ.
Vor allem überzeugt die Persönlichkeit der Protagonistin Tanja, der Großmutter der Autorin: ihre Verlässlichkeit der Bindung an Josef, den Großvater der Autorin, ihre Fähigkeiten im Umgang mit sozialen und politischen Schwierigkeiten in Burjatien, Wladiwostok und Harbin, ihre ständig präsente Gastfreundlichkeit und vor allem ihr ausgeprägter Humor. Aus diesen Eigenschaften resultiert eine Stärke, die die lebenslange Beziehung zu dem deutschen Kaufmann „auf Augenhöhe“ überhaupt ermöglicht. Seine Herangehensweise an die „Prüfungen“, die das Leben in diesen Zeiten der politischen Umbrüche ihm abverlangt, d.h. immer wieder neue wirtschaftliche Rückschläge, die Verbannung nach Burjatien/Sibirien, die Rückkehr nach Wladiwostok, dort neue Verfolgung und dann doch die Flucht nach Harbin/Nordchina, verdeutlicht, dass auch er als Handlungsmaxime neben dem Schutz seiner Familie seinen ethischen Kompass nicht verliert. Es geht ihm um den menschlichen Umgang mit allen seinen Gefährten, seien es Mit-Gefangene, seien es Angestellte oder Geschäftspartner, seien es Deutsche, Russen oder Chinesen. Er zweifelt dabei nicht selten an seinen Entscheidungen und stellt sich immer wieder die „Grundfragen“, also Flüchten oder Standhalten, sofort Handeln oder Abwarten, an sich denken oder die Familie und das gesamte Umfeld einbeziehen.
Insofern hat sich die Autorin, die bisher bekannt wurde durch ihr pädagogisches Werk in der Entwicklungspolitik, mit diesem Roman auf ein neues Terrain begeben, das Politik, Geschichte und vor allem den Fernen Osten auf dem Hintergrund ihrer Familiengeschichte behandelt. Es ist ihr wunderbar gelungen, diese „Sachgebiete“ den Leser*innen nahezubringen, weil es nicht rein dokumentarisch erfolgt, sondern durch die Schilderung der Lebensgeschichte der beiden Hauptpersonen, die so fremd und spannend ist, dass sich die Leser ihr nicht entziehen können.
Trudel Karcher, Juristin, August 2024