Dieses Buch ist ein Denkmal in seinem eigentlichen Sinn, nämlich als Aufforderung: Denk mal! Gemeint ist die Erwartung, beim interessierten Leser die Erinnerung zu wecken bzw. wach zu halten an eine bemerkenswerte Persönlichkeit, deren dramatische Lebensgeschichte in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts ansonsten dem Vergessen preisgegeben würde: Es handelt sich um die Geschichte des Schriftstellers, Fotografen, Pianisten, Land- und Molkereiwirtes, Asienforschers und Karawanenführers Helmut Westphal, Vater der Autorin Inge Ruth Marcus.
Wie schon bei ihrem ersten Band, dem biografischen Roman "Glut im Eis - vier Generationen zwischen fünf Diktaturen" über ihren Großvater Josef Naumann, der als deutscher Kaufmann in Wladiwostok lebte und arbeitete, im 1. Weltkrieg in die zaristische Verbannung und im 2. Weltkrieg in stalinistische Gulags gerät, hat Inge Ruth Marcus auch hier in akribischen Recherchen viele Dokumente, Zeugnisaussagen, familiäre Erinnerungen sowie in historischen Archiven zugängliche Quellen zu Rate gezogen und zu einer einfühlsamen Biographie verdichtet. Sie lässt den Leser gebannt teilhaben an den vielen Begegnungen, Dialogen und Konflikten mit maßgeblichen Personen seines zeitgenössischen Umfeldes, unter ihnen auch aus anderen Zusammenhängen bekannte bedeutende Persönlichkeiten wie den Asienforscher Sven Hedin und den späteren Widerstandskämpfer gegen die Naziherrschaft, Admiral Canaris. Insbesondere die differenzierte und kritische Entmythologisierung des späteren Naziverehrers Sven Hedin dürfte manchen Lesern auch heute noch ein Aha-Erlebnis bescheren.
Nach einigen unerfüllten amourösen Träumen und Beziehungen, die Helmut Westphal aufwühlten, ist die Schilderung seiner Begegnung und nachfolgenden Liebesgeschichte mit Sinaida Naumann gegen Ende des Buches besonders anrührend. Sie ist die Mutter der Autorin.
In Helmut Westphal begegnet uns eine beeindruckende Persönlichkeit, die unter extrem schwierigen Bedingungen und den dramatischen Umbrüchen der damaligen politischen Verhältnisse sich seine unverwechselbare Identität erkämpfte. Sein Lebensweg wirft beim kundigen Leser die klassische philosophische Frage auf: Wird die Persönlichkeit und Biographie eines Menschen eher durch die jeweils herrschenden Verhältnisse geprägt, oder formt sich das Ich vor allem aufgrund des individuellen Bewusstseins, angeborener Begabungen und Charaktereigenschaften und Prägungen des Elternhauses oder – wie hier – der kriegerischen Epoche. Es macht eine Faszination der Lektüre aus, dass ihre Beantwortung zwischen beiden Optionen changiert und dem Leser die Entscheidung darüber überlässt.
Das Buch setzt nachdenkliche und anspruchsvolle Leser voraus, die sich nicht nur auf die Biographie Helmut Westphals einlassen wollen, sondern auch an den historischen und politischen Hintergründen in Europa, Süd-Amerika und dem fernen Osten in Sibirien, China, der Mongolei, Tibet und Japan, zwischen und während der beiden Weltkriege interessiert sind. Letztere sind für uns Westeuropäer zumeist weiße Flecken auf der politischen Landkarte unseres Bewusstseins. In der lebendigen, lesefreundlichen Verbindung beider Elemente liegt eine besondere Stärke dieses Buches.
Nachbemerkung: Ich ziehe aus sprachästhetischen Gründen die traditionelle Schreibweise vor und verzichte damit bewusst auf eine künstlich gendergerechte Schreibweise.
Christoph Huppenbauer, Theologe, Januar 2023